Judith Goetz: Gender als systemrelevante Kategorie in der Corona-Pandemie

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Krisen, so die marxistische Feministin Frigga Haug, „lassen sich als Zwischenzeiten begreifen, in denen die gewohnte Ordnung nicht mehr funktioniert, aber noch keine neue Regelungsweise gefunden ist.“ Dieser Zwischenzustand trifft auch auf die gegenwärtige Covid-19-Krise zu, die vielen Menschen innerhalb kurzer Zeit eine Neuorganisation ihres Erwerbs- und Soziallebens sowie damit verbundener genderspezifischer Arrangements abverlangte. Was sich als Chance anbieten würde, um Geschlechterverhältnisse neu auszuhandeln, hat sich jedoch vielmehr als Situation herausgestellt, die die Gefahr einer weiteren Zuspitzung gesellschaftlicher Missstände birgt. Dazu zählen etwa der Anstieg von Gewalt im sozialen Nahraum, die Wiederbelebung traditioneller, genderspezifischer Rollenverteilungen oder damit verbundene finanzielle Abhängigkeiten. Antifeminist*innen wiederum können diesen Entwicklungen durchaus etwas abgewinnen.

Frauen: Relevant abhängig

Die geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Pandemie sowie des Lockdowns zeigen sich u. a. in der Erwerbswelt. Gerade die bis heute andauernde genderspezifische Berufsverteilung führt auch in Corona-Zeiten zu einer vielfachen Mehrbelastung für Frauen. Aufgrund unsicherer oder nicht systemrelevanter Jobs, die Frauen beispielsweise oft im Dienstleistungsbereich ausüben, sind sie  stärker von schlechter Entlohnung, Kündigungen und Kurzarbeit sowie einem daraus folgenden Armutsrisiko und Existenzängsten betroffen. Umgekehrt arbeiten auch deutlich mehr Frauen in systemrelevanten, aber ebenso schlecht entlohnten Branchen wie dem Lebensmittelhandel oder Pflegebereich. Als „Stützen der Gesellschaft“ oder „systemrelevante Heldinnen“ waren sie damit gerade in den letzten Wochen nicht nur erheblichem Stress und Überbelastung ausgesetzt, sondern auch größeren Risiken, sich mit dem Virus zu infizieren. Hinzu kommen die Doppel- bzw. Mehrfachbelastungen im „Eigenheim“, wo sich beispielsweise zwar drei Viertel der Mütter, aber nur knapp zwei Drittel der Väter im Homeoffice um die Kinder kümmern und Frauen (nicht selten auf Kosten der eigenen finanziellen Absicherung) zudem den größten Teil der Reproduktionsarbeit sowie des Homeschoolings und auch der Pflege von kranken Familienangehörigen übernehmen. Dass Männer oftmals besser verdienen, führt außerdem dazu, dass Frauen öfter ihre Anstellungsverhältnisse aufgeben, um der Kinderbetreuung oder anderen (unbezahlten) Care-Tätigkeiten nachkommen zu können. Bereits vor dem Ausbruch der Pandemie war ungefähr die Hälfte der Frauen in Österreich nur teilzeitbeschäftigt, nicht zuletzt um dadurch Familie und Beruf besser vereinen zu können. Insofern mag es auch nicht verwundern, dass eine Studie der Uni Wien die Gründe dafür, dass Frauen in der Corona-Krise deutlich unzufriedener mit der Situation sind als Männer, auf „die relativ hohen Belastungen im Haushalt und in der Kinderbetreuung“ zurück führt, „die bereits vor der Krise hauptsächlich Frauen trafen, die sich aber seit den Ausgangsbeschränkungen vielfach erhöht haben“. Von einer gerechteren Neuverhandlung genderspezifischer Arrangements also keine Spur, im Gegenteil scheinen in der aktuellen Krisensituation längst überholt geglaubte, traditionelle Geschlechterrollen und damit vermeintlich verbundene Aufgaben wiederbelebt und Abhängigkeitsverhältnisse gefestigt zu werden.

Frauen, bleibt (nicht) zu Hause?!

Ebenso wenig mag verwundern, dass erste Statistiken aus anderen Ländern einen deutlichen Anstieg von Gewalt im sozialen Nahraum während der Ausgangsbeschränkungen belegen. Auch die österreichischen Frauenschutzeinrichtungen beklagen seit vielen Jahren eine Zunahme häuslicher Gewaltdelikte immer dann, wenn Familien viel Zeit miteinander verbringen, wie beispielsweise zu Weihnachten. Gerade Krisenzeiten, die große psychische Belastungen und Kränkungen des männlichen Stolzes mit sich bringen, steigern das aggressive und gewalttätige Potential bei Männern mit entsprechenden Dispositionen. So werden Frust über Jobverlust, räumliche Enge oder mangelnde Abwechslung ebenso wie arbeitsbedingter Stress nicht selten an Partnerinnen oder Kindern ausgelassen. Dies zeigt auch ein versuchter Mord, der sich Ende März 2020 in Baden (Niederösterreich) ereignete. Ein Mann hatte mitten in der Nacht seine schlafende Ehefrau mit einem Holzstück beinahe tot geprügelt. Im Verhör gab er als Grund an, durch die nächtelange Arbeit von zu Hause „überfordert“ gewesen zu sein. In Italien erwürgte ein Mann seine Partnerin sogar, weil er dachte, sie hätte ihn mit dem Virus angesteckt. Auch die Frauenhelpline verzeichnete bereits im April 2020 um 70 % mehr Anrufe, während die Anzahl der Wegweisungen und Betretungsverbote nur leicht gestiegen war. Die Gründe dafür, dass ein signifikanter Anstieg in Österreich bislang ausgeblieben ist, so vermuten Expert*innen, können u.a. darauf zurückzuführen sein, dass ungestörtes Telefonieren im Lockdown nicht immer möglich ist, viele Frauen nur über mangelnde bis falsche Informationen über ihre Möglichkeiten verfügen, der ermutigende Austausch mit anderen aufgrund der sozialen Einschränkungen fehlt oder sich auch durch Jobverlust oder Kurzarbeit verursachte finanzielle Nöte Abhängigkeiten potenzieren, die entsprechende Schritte erschweren. Auch gibt es Erzählungen, dass Männer ihren Partnerinnen sogar das Handy weggenommen hatten. Die bilanzierende Behauptung der österreichischen Bundesministerin für Frauen und Integration, Susanne Raab: „Wir haben es geschafft, dass jede Frau, die Hilfe braucht, auch Hilfe bekommt“, ist folglich nicht nur weit hergeholt, sondern auch als Verharmlosung der Situation zu werten. Gerade weil Gewalt im sozialen Nahraum ein krisenunabhängiges, gesellschaftliches Problem darstellt, das sich aktuell lediglich zuspitzt, waren die von der Regierung gesetzten Maßnahmen wie die Kampagne Sicher zu Hause ebenso wie die Aufstockung des Budgets für die Frauenhelpline längst überfällig gewesen. Bereits vor der Covid-19-Krise hatten zahlreiche Frauenorganisationen gegenüber der türkis-grünen Regierung kritisiert, dass trotz der zahlreichen Femizide in Österreich in den letzten Jahren kaum mehr finanzielle Ressourcen für Gewaltschutz und -prävention zur Verfügung gestellt wurden. Umso wichtiger und notwendiger wäre es, die Finanzierung von entsprechenden Kampagnen und Einrichtungen auch nach der Pandemie nachhaltig zu gewährleisten. Die mit Sicherheit kommenden krisenbedingten Einsparungen lassen jedoch Gegenteiliges befürchten.

Wie Antifeminist*innen die Covid-19-Krise für sich nutzen

Ein Zusammenhang zwischen dem Virus und antidiskriminierenden Gender-Politiken konstruierte beispielsweise der emeritierte US-amerikanische Erzbischof Raymond Leo Burke, als er meinte, Seuchen seien Konsequenzen „unserer derzeitigen Sünden“, zu denen er neben Abtreibung und Sterbehilfe auch LGBTIQ*-Rechte sowie die „verheerenden Auswirkungen auf Menschen und Familien durch die sogenannte Gender-Theorie“ zählte. Katholik*innen dürfe außerdem der Zugang zu Gottesdiensten aufgrund von Social-Distancing-Maßnahmen nicht verwehrt werden, weil sonst die Gender-Theorie gewinne. Auch der Präsident der türkischen Religionsbehörde, Ali Erbaş, führte in seiner ersten Predigt anlässlich des Fastenmonats Ramadan den Ausbruch von Covid-19 auf Homosexualität und Ehelosigkeit zurück, die die Generation verfaulen lassen und Krankheiten bringen würden. Wenig verwunderlich bekam er für seine Aussagen Rückendeckung vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Umgekehrt wird aber auch der beschriebene gesellschaftliche Backlash, der Frauen wie auch Männer wieder verstärkt in traditionellere Rollen und Abhängigkeitsverhältnisse drängt, von Antifeminist*innen gefeiert. Sie freuen sich darüber, dass Diskussionen über Gendergerechtigkeit verstummt sind, in den Sterbestatistiken kein drittes Geschlecht angeführt wird und auch Abtreibungen aktuell nur erschwert möglich sind. Zudem sehen sie sich in ihrer Vorstellung bestätigt, dass es sich bei der heterosexuellen (Klein-)Familie um ein krisensicheres Modell handle, das nun wieder die gewünschte Aufwertung erfährt. Gerade in Krisenzeiten würden es viele als Sicherheit empfinden, wieder auf stereotype Rollen zurückgreifen zu können. So führt beispielsweise die deutsche Antifeministin Birgit Kelle in einem Essay aus, dass die Corona-Krise ein „neues Selbstbewusstsein der Mütter“ schaffe, „in dem Augenblick, in dem die staatliche Ordnung und ihr künstlich erzeugter Druck auf Mütter zusammenbricht, sie mit großer Normalität in eine Rolle zurück rutschen, die manche nie freiwillig verlassen haben, sondern aus der sie massiv hinaus gedrängt wurden.“ Ebenso bejubelt wird von antifeministischer Seite, dass Homeschooling „plötzlich flächendeckend organisierbar“ sei und damit auch den Eltern endlich wieder die Erziehung überlassen werde, wodurch Kinder besser vor den Einflüssen schulischer Bildung, insbesondere frühkindlicher Sexualpädagogik, geschützt werden könnten. Und weil beides so gut funktioniere, wird beispielsweise im Umfeld des antifeministischen Aktionsbündnisses Demo für Alle dann auch schon mal die Abschaffung der Schulpflicht gefordert.

Abschließend lässt sich sagen, dass Gender eine zentrale Kategorie darstellt, die in den vielfältigen Wirkungsweisen der aktuellen Pandemie zum Tragen kommt. Ausgehend von dieser Erkenntnis werden gendergerechte Krisenlösungsstrategien umso bedeutender. Dementsprechend kann es nicht ausreichen, beispielsweise die gesellschaftlich unverzichtbaren und dennoch schlecht entlohnten Systemerhalter*innen einmal täglich für fünf Minuten zu beklatschen, wenn gleichzeitig der Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen und Entlohnungen der entsprechenden Berufsgruppen ausbleibt. Diese wären hier ebenso dringend vonnöten wie finanzielle Absicherungen um Abhängigkeiten zu vermeiden, Entlastungen in Hinblick auf die Mehrfachbelastungen (beispielsweise durch eine Corona-Elternzeit) oder die nachhaltige Finanzierung von Gewaltschutzeinrichtungen. Auch die ernst gemeinte Berücksichtigung von Gender Budgeting in den Konjunkturpaketen oder den kommenden Sparmaßnahmen sowie der stärkere Einbezug von Frauenorganisationen in krisenrelevanten Entscheidungsprozessen könnten einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Und auch auf die Neuverhandlung genderspezifischer gesellschaftlicher Arrangements sollte nach der Krise nicht vergessen werden.

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin, Lehrbeauftragte an unterschiedlichen Universitäten, Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (www.fipu.at) sowie des Forschungsnetzwerks Frauen und Rechtsextremismus (http://www.frauen-und-rechtsextremismus.de/cms/).

Ihre Interessensschwerpunkte liegen bei Frauen*/Gender und Rechtsextremismus sowie Antifeminismus. Zuletzt erschienen die von ihr mitherausgegebenen Sammelbände Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen ,Identitären‘ (Marta Press, 2017) und Rechtsextremismus Band 3: Geschlechterreflektierte Perspektiven (Mandelbaum, 2019).